Rezensionen ohne Rechenschieber

Rezensionen ohne Rechenschieber

01.01.04

MOment Computer- und Videospiele haben in nur vierzig Jahren die Entwicklung vom Akademiker-Zeitvertreib zum Massenmedium vollzogen. Kinder haben durch Spiele den Umgang mit Rechnern gelernt, Erwachsene ihre Angst vor Technik verloren. Die Computerspielbranche der USA macht laut Wall Street Journal mehr Gewinn als die US-Filmindustrie. Es ist also höchste Zeit für einen differenzierten Umgang mit dieser neuen Kunstform. Leider leben viele Journalisten und Rezensenten immer noch in der Pac-Man-Ära.

Dumm genug, dass die Berichterstattung über Video- und Computerspiele in den Massenmedien selten über einseitige Betrachtungen hinausgeht. Fachmedien könnten einen wertvollen Beitrag leisten, wären die meisten von ihnen nicht längst zu Hochglanz-Werbebroschüren verkommen. Mit Nerd-Jargon vollgestopfte »Previews« degradieren Spielemagazine zu Bestellkatalogen und Einkaufsführern. Auf der Strecke bleibt nicht nur der Journalismus, sondern vor allem das Spiel selbst.

Der Spielebranche fehlen die kritischen Betrachtungen von außen, die etwa den Film fast von Beginn an begleitet haben. Mit ihrer Hilfe haben kreative, aber unkommerzielle Spielfilme auch heute noch eine kleine Chance im Meer der Blockbuster. Ohne dieses kritische Material werden Spielehersteller noch weniger Interesse haben, von den inzwischen mehr als breitgetretenen Pfaden der Fortsetzungen und schlechten Hollywood-Kopien abzuweichen.

Schlechte Rezensionen, die nicht mehr als bloße Produktempfehlungen sind, gibt es genug. Doch selbst fachlich versierte Artikel sind viel zu oft nur für das Ghetto der Eingeweihten, der Hardcore-Spieler geschrieben. Kritik muss mehr sein als Insiderwissen für Insider.

Spiele werden noch immer nicht als Gesamtwerk begriffen. Sie werden immer noch als Zusammensetzung einzelner Bausteine (Grafik, Sound, Animation usw.) bewertet und nicht als Einheit. Überboten wird diese Zerstückelei nur noch von dümmlichen Prozentbewertungen, die eine mathematische Genauigkeit vorgaukeln, die in einer Rezension völlig unmöglich ist.

Würde man diese Art der Bewertung etwa auf einen Kinofilm übertragen, der technisch gesehen aus vergleichbar vielen Bausteinen besteht, wird die Unprofessionalität deutlich: Herr Der Ringe III - Computeranimation 87% - Schauspielerische Leistung 67% - Musik 78% - Schnitt 88% - Kostüme 91% - Maske 93%. In keiner seriösen Filmrezension aber findet man diese Zerstückelung. Und kein Rezensent könnte seine prozentuale Wertung rechtfertigen.

So etwas erleichtere die Kaufentscheidung, argumentieren Redakteure und Branche unisono. Nein, im Gegenteil: so etwas verblendet. Ein kreatives Medium, dass von Schaffenden, Käufern und Kritikern wirklich ernst genommen wird, kann nicht mehr mit zusammenaddierten Steinzeitwertungen gemessen werden. Wer wissen möchte, wie dem Rezensenten ein Film gefallen hat, liest eben die Rezension. Oder schaut auf die beliebten »3 von 5 Sterne«-Wertungen, die für jeden ersichtlich rein subjektiv vergeben werden und keine objektive Genauigkeit vortäuschen. Und das geht doch sicher auch bei Spielen, liebe Redakteure.

Die Komplexität moderner Spiele ist längst an einem Punkt, an dem detaillierte Wertungspunkte irrelevant geworden sind. Optik und Akustik sind sehr wichtig, wenn sie neue spielerische Möglichkeiten schaffen. Doch einzeln sagen sie über die Gesamtqualität eines Spiels so viel aus wie die verwendete Filmkamera über die eines Spielfilms: gar nichts.



Besonders in den USA, in Skandinavien und in Japan werden Computerspiele mittlerweile in akademischen Kreisen ernst genommen. In der Branche gibt es sehr intelligente Köpfe, die ihre Erfahrungen in Spieltheorie, -konzeption und -design an andere Entwickler weitergeben. Doch so wichtig diese wissenschaftlichen Ansätze auch sind, sie helfen normalen Spielern genausowenig, wie Literaturwissenschaft den Mallorca-Touristen hilft, wenn sie nach Urlaubsschmökern suchen. Also meine Forderung: Computerspiele gehören ins Feuilleton!

Welche Bedeutung hat das besprochene Spiel in einem sozialen oder künsterlischen Rahmen? Wie erzeugt das Spiel bestimmte Emotionen beim Rezensenten? Welche Tricks wenden die Autoren an, damit Spieler sich in ihren Entscheidungen frei fühlen und dennoch das tun, was sie tun sollen? Wieviel Spaß macht das verdammte Ding auch nach 40 Stunden noch? Oder kurz: was stellt das Spiel im Kopf des Rezensenten an?

Die Herausforderung der feuilletonistischen Herangehensweise besteht darin, sich nicht einfach anderer Disziplinen zu bedienen: ein bisschen Literaturwissenschaft für die Handlung, ein wenig Theaterkritik für die Sprecher, dazu Kunstgeschichte für die Optik. Nein. Computerspiele sind ein eigenständiges Medium, auf das man diese Konzepte nur teilweise anwenden kann. Denn sie sind interaktiv. Nicht die Erzählung oder Hintergrundgeschichte als solche ist wichtig, sondern ihre Auswirkung auf das unmittelbar Gespielte. Ist das Gameplay genauso, wie es die Atmosphäre des Spiels verlangt? Dudelt die Musik nur vor sich hin, oder ist sie essentiell für das Spielerlebnis?



Wie groß der Einfluss der Video- und Computerspiele geworden ist, sehen wir nicht nur an VIVA-Trailern. Musikprojekte wie Japanese Telecom oder Little Computer People wären ohne Spiele unmöglich. Also brauchen wir Rezensionen und allgemeine Betrachtungen, die dieser Rolle gerecht werden.

Meine Bitte an Rezensenten, ob Amateur oder Profi: Orientiert euch zur Abwechslung mal an den Filmkritiken von Pauline Kael (»Lieber unter Niveau amüsiert als über Niveau gelangweilt«). Wagt es, auch millionenfach verkaufte Spiele gnadenlos zu verreißen! Wagt es, wunderbare, aber unbekannte Spiele in den Himmel zu loben! Auch wenn sich Rezensionen hinter objektiven Floskeln verstecken, bleiben sie immer subjektiv. Nutzt genau das aus: schreibt persönlich. Vielleicht steckt man dann einige Prügel ein, doch niemand wird sich beschweren, ein Artikel sei langweilig gewesen. Denn genau dazu sollen Spiele verleiten: sich nicht zu langweilen.

[Eine ältere Version dieses Artikels habe ich in meinem Weblog unter dem Titel »Rezensieren, nicht punkten« veröffentlicht.]
Matthias »Mo« Oborski spielt Computerspiele seit 20 Jahren.
Er schreibt, lebt und arbeitet auf ntropie.de.

MOment - Auch Spiele brauchen Liebe.