Erzähl mir was

Erzähl mir was

07.04.04

MOment Die meisten modernen Computerspiele erzählen eine Geschichte. Mehr oder weniger ausführlich, mehr oder weniger geschickt. Aber wie machen sie das eigentlich? Genau wie Filme und Romane? Oder doch ganz anders? Allzeit gültige Antworten darauf haben sich wohlweislich gut versteckt. Aber man kann ja trotzdem mal darüber nachdenken.

Eins vorweg: ich bin nicht der Ansicht, dass jedes Spiel eine Geschichte erzählen muss. Im Gegenteil: erzählende Elemente würden in manchen Genres nur stören. Sport-, Renn- oder Prügelspiele etwa sind fast nie narrativ (lateinisch narratio = Erzählung). Dies würde nur unnötig vom Gameplay und Spielspaß ablenken. Ob ein Spiel rockt, hängt vor allem von den Dingen ab, die es zu einem Spiel machen: Regeln, Zielsetzungen, Interaktivität und die Art, wie Spieler und Spielaktionen in der Spielwelt repräsentiert werden. Im folgenden Text geht es aber ausschließlich um Spiele, die genug narrative Elemente enthalten, um als »Spiel mit Story« durchzugehen. Nicht etwa, weil ich die anderen Spiele blöd finde, sondern nur, weil die jetzt hier nicht hingehören. Ich weiß auch, dass man sich ewig darüber streiten kann, ab wann eine Narration überhaupt eine ist und ab wann nicht. Mache ich aber nicht und erzähle lieber etwas.

Erzählung vs. Gameplay

Wirklich dumm gelaufen. Die Beziehung zwischen Erzählung und Gameplay ähnelt der Heisenbergschen Unschärferelation: je mehr sich ein Spiel auf eines dieser Elemente konzentriert, desto weniger kann das andere berücksichtigt werden. Will jemand eine spannende, emotionale Geschichte erzählen, müssen Spannungsbogen und Höhepunkte sorgfältig geplant werden. Außerdem müssen einschneidende Ereignisse wie Tod, Schmerz oder Freude unumkehrbar sein, um eine emotionale Reaktion bei den Zuhörern auszulösen. Übernimmt nun jemand anderes die Kontrolle, ein unschuldiger Spieler etwa, wird der Erzähler Zugeständnisse an diese Interaktivität machen. Gerade eines der emotional stärksten Elemente einer Erzählung muss aus spieltechnischen Gründen fast immer aus einem Computerspiel verbannt werden: der unumkehrbare Tod der Hauptfigur. Anders herum ist es ähnlich. Haben die Spieler größtmögliche Freiheit, können Handlung und Story kaum noch vorher festgelegt werden. Kurz: Je mehr vorherbestimmte Story erzählt wird, desto weniger spielerische Freiheit ist möglich und umgekehrt. In genau den Momenten, in denen das Spiel wirklich eine Geschichte erzählt (etwa per Filmsequenz), ist es kein Spiel mehr, Punkt. Macht aber nix – wie funktioniert denn dieses Erzählen überhaupt?


Lineare Erzählstrukturen oder »Hero's Quest«

Kurzer Ausflug in den Deutschunterricht. Die klassische Erzählung in Film, Roman oder Theater ist in drei Akte aufgeteilt. (Theaterstücke teilen diese drei Akte oft in weitere auf und werden so zu Vier- oder Fünfaktern, aber Hollywood-Filme halten sich oft sklavisch an die Drei-Akte-Struktur.) Erster Akt: Held(in) und Umgebung werden vorgestellt; irgend jemand oder irgend etwas zwingt Held(in), aktiv zu werden; Held(in) begibt sich auf eine Reise – und sei es nur mental. Zweiter Akt: Hero's Quest. Held(in) begegnet Problemen und Aufgaben, sammelt Erfahrungen und lernt etwas über sich und die Ursache seiner »Reise«. Dritter Akt: trotz einiger Rückschläge naht das große Finale; Held(in) erkennt mithilfe der neu gewonnenen Erfahrung die Lösung und überwindet den Konflikt entweder erfolgreich (Happy End) oder scheitert daran (Tragödie). Schluss. Das ist natürlich sehr verallgemeinert und lässt andere interessante Erzählstrukturen außer Acht, doch prinzipiell laufen die meisten bekannten Geschichten so ab, von »Hamlet« über »Pretty Woman« bis zu »American Pie 3«.

Und das erzählende Computerspiel? Das besteht hauptsächlich aus dem zweiten Akt und eventuell dem Beginn des dritten. Ein mehr oder weniger ausführliches Intro oder das Handbuch übernehmen den ersten Akt, der Abspann als dritter Akt belohnt die Spieler mit einem hoffentlich durchdachtem Abschluss. Jeder kann sicher Spiele nennen, die aus dem Rahmen fallen, doch die meisten alten und neuen Spiele lassen sich genre-unabhängig in das Drei-Akte-Schema pressen. Wie strickt man aus diesem linearen Schema nun ein interaktives Spiel? Tja, das allerdings hängt stark vom Spielgenre ab. Nehmen wir uns mal die vier gebräuchlichsten Modelle vor.

Sind die Perlen echt?

Ob Ego-Shooter, Strategiespiel oder Adventure – viele Genres erzählen ihre Geschichten in Form einer symbolischen »Perlenkette«. Innerhalb einer Perle (Level, Spielabschnitt, Map o.ä.) können sich Spieler relativ frei bewegen, müssen aber bestimmte Aktionen erfüllen, um zur nächsten Perle zu gelangen. Die Kette selbst, also die grundlegende Geschichte, kann weder verändert noch beliebig umsortiert werden. Oft leiten Filmszenen von einem Element zum nächsten über. Vorteil für die Designer: da die Spieler sich durch den engen Faden zwischen den Perlen zwängen müssen (sich also zwischen genau definierten Start- und Zielbedingungen bewegen), können Story und Filmszenen detailliert geplant werden.

Die nächste links abbiegen

Richtig frisch weht der Storywind, wenn sich die Geschichte aufgrund von Spielerhandlungen verzweigt und aufsplittet. Dieses verzweigte Erzählen ist eine hohe Kunst, die sich meistens nur auf unterschiedliche Endsequenzen oder leicht voneinander abweichende Lösungswege beschränkt. Wie etwa in den Wing Commander Spielen: je nach Kampfleistung ändert sich das globale Schicksal der Welt genau wie das private der Spielfigur. Auch klassische Adventures bieten neben der erzählerischen Hauptstraße oft diverse Nebenstrecken an, die sich oft aber wieder zur linearen Perlenkette vereinigen. Komplexe, fein verästelte Erzählungsbäume wie in Alter Ego sind eher selten, da sie einige Nachteile mit sich bringen. Spieler werden das Gefühl nicht los, etwas verpasst zu haben. Ist die Verzweigung schlecht geplant, fehlt auch die Lust, ein Spiel nur wegen eines anderen Endes komplett zu wiederholen. Nachteil für die Entwickler: der Produktionsaufwand aktueller Spiele ist zu hoch, um etwaige Filmszenen, Dialoge oder gar ganze Level zu entwerfen, die viele Spieler vielleicht nie sehen werden. Zu Zeiten des Textadventures war verzweigtes Erzählen durchaus gebräuchlich, da hier nur zusätzlicher Text geschrieben werden musste.

Disneyland in Morrowind

Hier 'ne Attraktion, da 'ne Attraktion, und das zur gleichen Zeit an verschiedenen Orten. Während das verzweigte Erzählen eine Geschichte zeitlich aufsplittet, macht dies das Freizeitpark-Modell vor allem räumlich. Hä, wie jetzt? Beispiel: Elite, Privateer, X - Beyond the Frontier und ähnliche Spielegeschwister. Das Wesentliche bei diesen Spielen ist das Erforschen, das Handeln, das Mal-Hierhin-Schauen und Mal-Dorthin-Ballern. Viele »Attraktionen« sind über die gesamte Spielwelt verteilt und warten darauf, entdeckt zu werden. Die zeitliche Reihenfolge spielt (fast) keine Rolle. Was wann gemacht wird, entscheidet der Spieler. Trotzdem hängt die Geschichte der Spielfigur sehr davon ab, wie die Entwickler die einzelnen »Attraktionen« geplant haben. Das wird mit den nächsten Beispielen deutlich: groß angelegte Rollenspiele wie die der Ultima-Reihe oder Elder Scrolls 3: Morrowind. Klar, ein zeitlicher Spannungsbogen verbindet hier Anfang und Ende; doch durch die Vielzahl der Subquests oder die endlosen Spielereien mit Werten und Gegenständen können solche Spiele tagelang gespielt werden, ohne an die Hauptstory auch nur denken zu müssen. Die Spielfiguren verweilen also bei den Attraktionen dieses riesigen Freizeitparks, wenn sie mal gerade keine Lust haben, sich wieder durch die Perlenkette zu zwängen.

LEGO prego

Die Sims. Civilization. Alpha Centauri. Kleine Privatgeschichten, große Weltgeschichte. Erzählt wird hier auch, aber nicht von den Entwicklern. Die liefern für dieses Baukasten-Modell nämlich nur die kleinen Klötzchen, die einzelnen Regeln. Im Gegensatz zu den drei vorigen Modellen treffen hier die Spieler alle wichtigen erzählerischen Entscheidungen. Die Entwickler sorgen nur für Bühne und Spielregeln. Gottgleich können Spieler die einzelnen Bauklötze beliebig zu einer Geschichte zusammengebauen. Auf die private Familiengeschichte eines Simbürgers haben die Designer keinen Einfluss mehr, ebensowenig auf die Historie großer Zivilisationen. Nur die Bauklötze liefern sie noch dazu. Und das ist ja auch nett.

Jetzt ist aber Schluss!

Perlenketten, Erzählzweige, Freizeitparks und Baukästen. Die Übergänge zwischen den vier Modellen sind fließend, und oft bedienen sich Spiele mehrerer davon. Ach, und was ist eigentlich mit komplexen Online-Rollenspielen? Wo entsteht da die Erzählung? Tja, es bleiben wie so oft viele Fragen offen. Etwa die nach dem Erzähler. Jede Geschichte benötigt einen. Wer genau in einem Spiel erzählt und wie und aus welcher Perspektive, darum geht's das nächste Mal in: »Wer bin ich?« Und danach – ja danach gibt's endlich wieder was ganz ohne blöde Theorie.

Versprochen.



Viele Ideen und vor allem die Bezeichnungen der Erzählmodelle stammen aus Jakub Mejewskis Arbeit »Theorising Video Game Narrative«.
Matthias »Mo« Oborski spielt Computerspiele seit 20 Jahren.
Er schreibt, lebt und arbeitet auf ntropie.de.

MOment - Auch Spiele brauchen Liebe.