Dogma 2001

Dogma 2001

10.01.04

MOment Ernest W. Adams ist weder gescheiterter Programmierer noch Möchtegern-Designer oder naiver Idealist. Er ist erfolgreicher Spielentwickler und hält Vorträge über Spieldesign und kreatives Schreiben. Zu seinen erfolgreichsten Arbeiten gehören die Madden NFL Sportspiele für EA Sports. Ausgerechnet dieser unscheinbare Mann hat (nach dem Vorbild von Thomas Vinterberg und Lars von Trier) unter dem Titel »Dogma 2001« seine zehn Reinheitsgebote für Spielentwickler veröffentlicht.

(Zur Erinnerung: Vinterberg und von Trier veröffentlichten 1995 ihr filmisches »Keuschheitsgelübde«, das sie zwar nicht ohne Ironie, aber doch mit ernster Absicht verfassten. Die Interessierten können den Wortlaut bei movie-college.de nachlesen.)

Im Jahr 2001 veröffentlichte Herr Adams seine eigenen Dogmen, angepasst an die Gegebenheiten der Spielebranche. Ja, die Geschichte ist ein alter Hut. Aber da ich glaube, dass nur wenige davon Wind bekommen haben, stelle ich die von Adams aufgestellten Forderungen hier noch einmal vor. Den englischen Originaltext habe ich gekürzt übersetzt und mit eigenen Kommentaren versehen.

Natürlich ist Dogma 2001 gerade keine Formel für kommerziellen Erfolg. Adams geht bewusst gegen breitgetretene Pfade der Entwickler vor, um zwei Ziele zu erreichen: erstens, den Einfluss der Technik auf das Spielgefühl zu mindern. Computerspiele bedienen sich zwar der Technik, sollten aber nicht um sie herum entworfen werden. Zweitens, die riesige Anzahl der schlechten Kopien zu verringern. Laut Adams gibt es viel zu viele Spiele, die in ähnlichen Welten spielen und die sich auf die gleiche Weise spielen lassen. Hier stimme ich ihm voll und ganz zu.

Genug der Vorrede. Bitte vor dem Lesen der Adamsschen Dogmen alle Ironie-Schaltkreise aktivieren. Danke. Hier kommt Regel Nummer Eins.
  1. Die Spielentwürfe dürfen keine Geräte erwähnen, die in der Zielmaschine (PC, Konsole o.ä.) installiert sind. Eingabegeräte oder Monitor dürfen in Diskussionen über die Benutzeroberfläche erwähnt werden. Mindestanforderungen werden durch die Programmierer während der Entwicklung festgelegt. Dogma-Spielentwürfe beschreiben nur das Spiel, Punkt. Als Dogma-Designer lehnt man Technik als Teil des Spieldesigns ab.
Richtig. Das Spieldesign sollte sich genau damit befassen: mit dem Design des Spiels. Ob und wie das später in die Tat umgesetzt wird, ist Sache der Programmierer. Dies erscheint zunächst realitätsfern, würde vielen Spieleschmieden aber gut zu Gesicht stehen, die sich nur Gedanken um die spätere Erscheinungsform eines Spiels machen und nicht um den Kern des Spielens: den Spielspaß.
  1. Die Nutzung jeglicher 3D-Hardware ist verboten. Software 3D-Engines sind nicht verboten, doch muss das Spiel bei 20 Bildern/Sekunde oder besser im 640x480 16-Bit SVGA-Modus oder Ähnlichem laufen. Durch die Verwendung eines einfachen Standards haben sowohl Designer als auch Programmierer den Kopf für wirklich wichtige Dinge frei.
Harter Stoff. Ich höre die Hardcore-Zocker und PR-Abteilungen schon aufschreien. So sehr ich Ernest Adams' Motivation verstehe, ich widerspreche ihm hier. Nicht jegliche Nutzung von 3D-Hardware sollte für Entwickler verboten sein, sondern die sinnlose Nutzung einer 3D-Umgebung (egal, ob auf Hard- oder Softwareebene). Spiele wie Lemmings oder Pac-Man, die den zweidimensionalen Raum in Perfektion ausnutzen, haben nichts in drei Dimensionen verloren. Hingegen ist die Nutzung von 3D-Hardware bei Spielen, deren Spielprinzip auf der Dreidimensionalität des Raumes beruht (z.B. Homeworld, Rez, Grand Theft Auto 3), mehr als sinnvoll. Ob dafür allerdings immer die allerneueste 3D-Hardware angeschafft werden muss oder ob die Programmierer lieber bereits etablierte Hardware besser ausnutzen sollten, steht auf einem anderen Blatt.
  1. Nur die folgenden Eingabegeräte sind erlaubt: bei Konsolen der Standard-Controller; bei PCs ein zweiachsiger Joystick mit zwei Knöpfen, ein D-Pad mit zwei Knöpfen, eine Standard-Tastatur und eine Zweitasten-Maus. Die meisten Spiele, die von verspielten Eingabegeräten abhängig sind, sind lausige Spiele. Man darf für den Entwurf solcher Spiele keine Zeit verschwenden.
Wie, keine Tanzmatte als Eingabegerät? Ach was. Diesen Punkt halte ich angesichts der nur geringen Anzahl »exotischer« Eingabegeräte für überflüssig. Und für überflüssige Dogmen sollte man, ganz nach Adams, keine Zeit verschwenden.
  1. Es dürfen keine Ritter, Elfen, Zwerge und Drachen verkommen. Desweiteren verboten sind Zauberer, Frauenzimmer, Barden, Barkeeper, Golems, Riesen, Kleriker, Totenbeschwörer, Diebe, Götter, Engel, Dämonen, Hexen, untote Körper oder Körperteile (mumifiziert oder verrottend), Nazis, Russen, Spione, Söldner, Weltraum-Marines, Sturmtruppen, Sternenpiloten, humanoide Roboter, böse Genies, verrückte Wissenschaftler oder fleischfressende Außerirdische. Und verdammte Vampire. Wenn man sich ohne die erwähnten Begriffe kein Spiel ausdenken kann, ist man nicht kreativ genug, um sich Spieldesigner nennen zu dürfen.

    Zum Beweis sei erwähnt, dass Folgendes nicht ausgeschlossen wird: Königinnen, Kobolde, Massaikrieger, Geister, Succubi, Hunnen, chinesische Mandarin, Wahrsagerinnen, Grizzlybären, Hamster, Seeungeheuer, vegetarische Außerirdische, Terroristen, Feuerwehrleute, Generäle, Gangster, Detektive, Zauberkünstler, spritistische Medien, Shamanen, Huren und Lacrosse-Spieler. Vergessen Sie also, dass Sie je von George Lucas und J.R.R. Tolkien gehört haben.
Ja. Ja. JA! Ernest Adams, Sie haben meine volle Zustimmung. Ich kann diese immer gleichen Figuren in Spielen nicht mehr ertragen. Mag man über einzelne aufgezählte Begriffe anderer Meinung sein, so sollte sich doch jeder kreative Spielentwickler darauf konzentrieren, wirklich interessante Figuren zu erschaffen. Das Spiel, das Huren und vegetarische Außerirdische mit Lacrosse-Spielern und Hamstern vereint, kaufe ich ungesehen. Nur was Adams gegen Barkeeper hat, weiß ich nicht.
  1. Die folgenden Spieletypen sind verboten: Ego-Shooter, Sidescroller, jegliches Actionspiel mit »Spezialangriffen«. Auch verboten sind: Simulationen von Militärfahrzeugen des 20. Jahrhunderts, Simulationen von Sportarten, die regelmäßig im Fernsehen erscheinen, Echtzeit-Strategiespiele, die sich nur auf Kriegsführung und Waffenproduktion konzentrieren, Schloss-und-Schlüssel Adventures, zahlenstrotzende Rollenspiele und alle Kartenspiele aus Hoyle's Rules of Card Games. Es ist die Pflicht eines Dogma-Designers, neue Spielgenres zu erschaffen, statt immer nur technisch eindrucksvollere Spiele in alten Genres abzuliefern.
Gängiges Gegenargument der Branche: es gäbe doch schon alle Genres, wirklich Neues sei nicht mehr zu machen. Dies ist so dumm wie falsch. Es wird immer kreative Entwickler geben, die neue Wege beschreiten. Auch Ego-Shooter waren mal neu. Dennoch sehe ich das Genre-Dogma nicht so endgültig wie Adams. Ein Mittelweg zwischen Innovation innerhalb bestehender Genres und der Erfindung neuer Genres erscheint mir sinnvoll. Aber Mittelwege eignen sich schlecht zur Aufstellung von Dogmen.
  1. Alle Kinosequenzen, Schnittszenen und andere nicht-interaktive Filme sind verboten. Die geheime Leidenschaft von Spieldesignern, Filmregisseure sein zu wollen, schadet ihren Spielen und der gesamten Industrie. Diese Leidenschaft muss ausgerottet werden.
Mit einer kleinen Einschränkung stimme ich Adams hier zu. Endlose, völlig sinnfreie Filmchen zerstören meinen Spielspaß selbst bei guten Spielen. Zuletzt ist mir dies bei Warcraft 3 passiert: das hirnerweichende Dummgeschwätz zwischen den Missionen hat mir zielsicher die Lust auf die nächste Mission geraubt. Ich möchte ein Spiel spielen. Wenn ich Filme sehen will, gehe ich ins Kino. Sinnvoll sind (kurze!) Zwischensequenzen dann, wenn sie Spannung dadurch aufbauen, dass sie dem Spieler Wissen vermitteln, das seine Spielfigur nicht hat (Beispiele: The Secret of Monkey Island; Dark Project - Der Meisterdieb). Da dies keine leichte Aufgabe ist, sollten Spieldesigner Filmschnipsel nach dem Motto »weniger ist mehr« verwenden. Denn dass Entwickler keine Regisseure sind, wissen wir nicht erst seit Chris Roberts.
  1. Gewalt wird strikt auf das Verschwinden oder die Unbeweglichkeit zerstörter Einheiten begrenzt. Beschädigte oder zerstörte Einheiten dürfen als solche nur symbolisch, nicht gegenständlich dargestellt werden. Es darf weder Blut noch Explosionen oder Todesanimationen geben. Obwohl der Konflikt das zentrale Prinzip der meisten Spiele darstellt, ist das derzeitige Wettrüsten um immer anschaulichere Gewalt schädlich und ablenkend. Explosionen und Todesanimationen sind nur kurze nicht-interaktive Filme. Verwendet man Zeit darauf, verschwendet man nur Energie, die man besser in das Gameplay oder die KI investieren sollte.
Zu beachten ist hier, dass Adams Gewalt nicht aus moralischen, sondern aus spieltechnischen Gründen ablehnt. Ich kann der Argumentation von Ernest Adams nicht ganz folgen, da realistisch dargestellte Gewalt je nach Genre und Thema eines Spiels zu dessen Atmosphäre beiträgt. Ich würde zum Beispiel ein Actionspiel viel weniger »sorgfältig« spielen, wenn die Gewalt gegen meine Spielfigur nur symbolisch wäre.
  1. Es darf Sieg und Niederlage wie auch »meine Seite« und »deren Seite« geben, aber kein Gut und Böse. Gut gegen Böse ist die abgedroschenste Entschuldigung für zwei sich bekämpfende Seiten, die man sich vorstellen kann. Kein menschliches Wesen – verrückte Amokläufer ausgenommen – wird sich selbst als »böse« bezeichnen. Als Dogma-Designer muss man entweder eine realistische Erklärung für den Konflikt zweier Seiten liefern oder ganz darauf verzichten, wie beim Schach.
Dieses Dogma sollte jeder Spielentwickler unter allen Umständen befolgen. Nichts ist dämlicher, als ein grandioses Spielprinzip durch langatmige Gut-gegen-Böse-Argumente zu rechtfertigen. Spieler benötigen keine platte Rechtfertigung für die spielerische Austragung eines Konfliktes. Bei Tetris will ja auch niemand wissen, warum da plötzlich bunte Steinchen vom Himmel fallen.
  1. Falls ein Spiel eher gegenständlich als abstrakt ist, darf es keinen konzeptionellen »Non-Sequitur« (logischen Fehler) enthalten. Beispiel: in Ölfässern verstecke Medikits. Diese logischen Fehler sind nicht bloß Schlamperei; sie gehören zu den Dingen, die Nichtspieler davon abhalten, Spiele zu spielen. Spieler dagegen wissen, dass man alles in die Luft jagen sollte, um an versteckte Gegenstände zu kommen, weil sie schon viele andere Spiele kennen, die diesem Muster folgen – Spiele, die von Halbwüchsigen erschaffen wurden, für die es reiner Selbstzweck ist, Dinge in die Luft zu jagen. Normale Menschen lassen ihr Urteilsvermögen entscheiden, welche Dinge sie zerstören und welche nicht. Da es einer normalen Person nicht einleuchtet, Medikits im Inneren eines Ölfasses zu finden, wird diese Person das Ölfass auch nicht zerstören und ist damit im Nachteil. Ein Dogma-Designer muss mit seinem Spielentwurf den Verstand belohnen und nicht die rohe Gewalt.
Ich habe nie verstanden, warum Spieldesigner einerseits immer realistischere Spielumgebungen schaffen wollen, wenn sie dort andererseits an völlig hirnrissigen Plätzen unrealistische Gegenstände platzieren. Wenn Realismus, dann bitte konsequent. Einem Spiel wie Doom kann man noch verzeihen, dass Medikits, Helme oder Rüstungen wild verstreut in der Gegend herumliegen. In aktuellen Spielen, die den Anspruch des Ultra-Realistischen haben, finde ich so etwas unverzeihlich. Wenn sich Spielentwickler auf diese Art der symbolischen Abstraktion einlassen, sollte die gesamte Spielwelt ebenfalls abstrakt dargestellt werden – so wie in Tron 2.0 demonstriert.
  1. Falls ein Spiel eher gegenständlich als abstrakt ist, darf die Farbe Schwarz nicht benutzt werden, um von Menschen erschaffene Gegenstände, Tinte ausgenommen, darzustellen. Sie darf auch nicht für gefährliche erfundene nichtmenschliche Kreaturen verwendet werden. Die Farbe Schwarz darf verwendet werden, um Räume darzustellen, in denen das Licht ausgeschaltet ist. Künstler, die Gegenstände dadurch cool machen, indem sie sie schwarz darstellen, sollten mit einem Tritt in den Hintern zurück auf die Kunsthochschule geschickt werden. Dies gilt auch für Chrom und Eisengrau, doch Schwarz ist die schlimmste Straftat.
Nun ja. Da scheint Herrn Adams die Puste ausgegangen zu sein. Im Vergleich zu den anderen aufgestellten Dogmen halte ich seinen letzten Punkt weder für besonders kontrovers noch für besonders wichtig. Sicher hüllen sich viel zu viele Spiele in angeblich cooles Schwarz. Doch wenn's zum Spiel passt und vor allem der Spielspaß nicht zu kurz kommt, ist mir das völlig schnuppe.

Alle zehn Gebote wollen letztlich eines: Freiheit durch Begrenzung. Dadurch, dass sich Spielentwickler auf ihr eigentliches Aufgabengebiet konzentrieren, gewinnen sie Freiraum. Freiraum für neue Möglichkeiten, neue Ideen, neue Konzepte, die nicht sofort von PR- oder Programmier-Realos plattgewalzt werden. Ein Spielprinzip sei technisch nicht machbar? Es verkaufe sich nicht? Wer schon mit diesen Brettern vor'm Kopf anfängt, kann kaum innovative Spiele abliefern. Ernest Adams schließt mit den Worten:
Zuletzt erkenne ich an, dass innovatives Gameplay nicht bloß eine begrüßenswerte Eigenschaft, sondern ein moralischer Imperativ ist. Alle anderen Erwägungen sind zweitrangig.
Amen. Dieser Satz sollte in meterhohen blutroten (nicht schwarzen!) Buchstaben in den Büros aller Spielentwickler dieser Welt prangen. Und per Endlosschleife aus den Lautsprechern dröhnen. Und als Gemeinschaftsgebet morgens, mittags und abends in der Kantine zelebriert werden. Und... ach, ich geh' jetzt spielen.
Matthias »Mo« Oborski spielt Computerspiele seit 20 Jahren.
Er schreibt, lebt und arbeitet auf ntropie.de.

MOment - Auch Spiele brauchen Liebe.