Wer bin ich?

Wer bin ich?

12.05.04

MOment Die meisten Computerspiele erzählen Geschichten. Mal kleine, mal große. Jede Geschichte braucht einen Erzähler. Aber wo genau versteckt der sich in Spielen? Und aus welcher Perspektive betrachtet er die Spielwelt um sich herum? Wie bei Literatur oder Film muss man auch hier aufpassen, um Autor, Erzähler und Handlungsfigur nicht miteinander zu verwechseln. Und wenn es dann noch um die Erzählform oder -haltung geht, wird das schon richtig kompliziert. Nun denn, frisch ans Werk.


Wie schon im vorigen Text werden nur solche Spiele betrachtet, die eine Geschichte erzählen. Das letzte Mal stand das Gerüst der Erzählung im Mittelpunkt. Jetzt fehlt noch jemand, der diese Erzählung auch ausplaudert. Und hier fangen die Missverständnisse schon an. Bei Büchern oder Filmen wird immer wieder hartnäckig der Autor für den Erzähler gehalten. Das ist aber falsch. Die realen Autoren oder Urheber wie z.B. Stephen King, Quentin Tarantino und Peter Molyneux kommen nicht selbst zu Wort, sondern erschaffen einen Erzähler oder eine »Erzählinstanz« (das sagen Leute, die studiert haben), die quasi zwischen Urheber und Lesern, Zuschauern und Spielern vermittelt. Bei Computerspielen kann man sich diese Erzählinstanz als eine Art Programmteil vorstellen, der Begriff »Erzähler« passt hier also nicht mehr ganz. Um es zu vereinfachen: während Herr Molyneux faul zuhause herumhockt, muss sich diese Erzählinstanz jedes Mal abrackern, wenn irgendwo jemand Black & White spielt.

Ja hallo erstmal, ich bin die Lara

Ganz Denkfaule setzen auch schon mal den Autor mit der Hauptfigur gleich, besonders dann, wenn ein Buch in der Ich-Form geschrieben ist. Dieses »ich« hat mit dem Urheber aber nichts zu tun. In Computerspielen wird das deutlicher als in Büchern. Niemand verwechselt die Designer von Core Design mit Lara Croft (obwohl das sicher lustig wäre), niemand verwechselt Tom Clancy mit Sam Fisher aus Splinter Cell. Was ist nun mit der Trennung von Erzähler und Handlungsfigur? Wenn die Geschichte in der dritten Person erzählt wird (»Sie öffnete die Tür.«), haben Figur und Erzähler nichts miteinander zu tun. Leuchtet ein. Wenn aber eine Geschichte per Ich-Form erzählt wird und dieser Ich-Erzähler wirklich innerhalb seiner Geschichte handelt (»Ich öffnete die Tür.«) und nicht bloß von außen den Märchenonkel spielt (»Liebe Leser, ich erzähle nun von Max & Moritz.«), dann übernimmt die Figur die Rolle des Erzählers. Wer angeben will: den ersten Fall nennt man auch »personalen Ich-Erzähler«, den zweiten »auktorialen Ich-Erzähler«.

Schön und gut. Im geschriebenen Text ist das ja noch zu kapieren. Aber in Computerspielen? Da steht kein »ich«, da steht kein »er« oder »sie« auf dem Schirm. Höchstens bei diesen uralten Textadventures. Und genau deshalb schauen wir uns die mal schnell an, bevor dann endlich Kracher wie Far Cry drankommen. Manchmal sind solche Umwege nützlich.

Ich und Du

»Du stehst auf einem offenen Feld. Vor dir siehst du ein weißes Haus.« So oder so ähnlich wird in einem typischen Textadventure die Spielwelt gezeigt. Moment! »Du«? Das ist aber neu. In Büchern wird fast nie in Du-Form erzählt, weil sich das für die Leser auf Dauer seltsam künstlich anhört. Im Spiel funktioniert es anscheinend. Doch wer ist im Textadventure mit »Du« eigentlich gemeint? Der Spieler etwa? Nee, kann nicht sein. Denn der wendet sich mit Befehlen wie »gehe nach Norden« oder »öffne Tür« an genau dasselbe »Du«. Also bezeichnen Spiel wie auch Spieler mit »Du« den Avatar, die Handlungsfigur im Spiel. Da schaut die Erzählinstanz dumm aus der Wäsche, denn plötzlich hat nicht mehr der Autor oder das Entwicklerteam die alleinige erzählende Macht, sondern teilweise auch der Spieler.

Warum funktioniert diese Du-Form in interaktiven Geschichten so gut, in nicht-interaktiven aber nur selten? Am einfachsten können sich Leser eines Romans mit der Hauptfigur identifizieren, wenn er aus der Ich-Perspektive erzählt wird. Gedanken, Gefühle und Ansichten der Figur können direkt mitgeteilt werden. Im Textadventure erzeugt dieses »Ich« aber eine merkwürdige Distanz zwischen Spieler und Spielfigur. So, als ob man jemandem bei dessen Geschichte zuschauen würde, anstatt selbst die Handlung zu bestimmen: »Ich stehe auf einem offenen Feld.« – »Na und? Dann bleib doch da stehen!« Während Leser und Figur im Buch durch das »Ich« nahe zusammenrücken, funktioniert das in Textadventures erstaunlicherweise mit »Du« viel besser.

Alles ist Text

Zurück in die Gegenwart. Eine kurze Szene in Far Cry oder einem beliebigen Shooter könnte so aussehen: 3rd-Person- oder Außenansicht, die Spielfigur fährt mit dem Boot über's Wasser. Zum Ballern schnell in die Ego-Ansicht wechseln. Waffe wählen, schauen, zielen, schießen. Treffer. Wegen der besseren Übersicht wieder zurück in die Außenansicht. Und weiter geht's.

Hier wird schnell hintereinander zwischen zwei Formen der grafischen Darstellung gewechselt: Ego- und Außenansicht. Aber wechselt mit der grafischen Präsentationsform auch gleich die Erzählperspektive? Nö. Die Erzählsituation verändert sich ja überhaupt nicht. Der Unterschied zwischen Egoansicht und Außenansicht ist hier rein formal, um bessere Spielbarkeit zu garantieren. Wenn man obige Spielszene mit Worten nacherzählen müsste, würde man wohl kaum mal die Ich-Form, mal die Er/Sie-Form benutzen. Also geht die einfache Rechnung »Ego-Shooter = Erzählung in erster Person. Tomb Raider o.ä. = Erzählung in dritter Person« nicht auf.

Jetzt liegt es nahe, dass auch Spiele wie Far Cry eigentlich in einer Art »virtueller Du-Form« erzählt werden, unabhänglich von der grafischen Darstellung: »Du fährst mit dem Boot über's Wasser. In der Ferne siehst du ziemlich mutantige Mutanten.« Die Steuerbefehle per Gamepad oder Tastatur sähen verbal in etwa so aus: »Nimm Waffe. Dreh dich nach links. Schieße. Dreh dich nach rechts.» Hossa! Da ist es wieder, das Textadventure von eben.

Kein Ende in Sicht

Der Großteil der Computerspiele, die auch eine Geschichte erzählen, tut dies also in der sonst nur höchst selten verwendeten zweiten Person. Diese zweite Person, dieses »Du«, ist selten so direkt sichtbar wie etwa in der Literatur, also muss man sehr genau danach suchen. Außerdem haben nicht mehr die Urheber alleine die Gewalt über den Erzähler oder die Erzählinstanz, denn für jeden einzelnen Spieler wird ein Spiel individuell neu erzählt – abhängig von den Spielaktionen.

Dies ist natürlich kein in Granit gemeißeltes Manifest, sondern nur meine Überlegung. Sicher gibt es etliche Ausnahmen und Grenzfälle. In Cold Blood z.B. wird durch Rückblenden erzählt, die von einem Ich-Erzähler per Zwischenkommentaren zusammengehalten werden. Geskriptete Ereignisse und Filmsequenzen entreißen dem Spieler die Kontrolle über die Erzählung, verstecken das »Du« und entsprechen den herkömmlichen Erzählformen und -situationen des Kinos. Und Spiele, die gar keine echte Geschichte erzählen, habe ich ja absichtlich gar nicht beachtet.

Andere Meinungen sind immer willkommen. Leider ist das Thema nicht ganz so einfach zu durchschauen. Deswegen wird es das nächste Mal auch wieder etwas fluffig Lockerleichtes zu Lesen geben. Bestimmt.
Matthias »Mo« Oborski spielt Computerspiele seit 20 Jahren.
Er schreibt, lebt und arbeitet auf ntropie.de.

MOment - Auch Spiele brauchen Liebe.